Schneewittchens Sargdeckel
Ich bleibe hier. Immer. Ich liege. Tag um Tag um Tag liege ich im Bett. Ich schaue an die Decke. Ein Scherzkeks hat eine Glasscheibe eingelassen. Frank heißt der Scherzkeks. Frank ist mein Bruder. Frank reist und reist und reist. Immer. Um die ganze Welt. Mit dem Flieger, wie er salopp sagt. Und weil ich eben nicht reise, sondern liege, hat er mich kurzer Hand in ein Heim verlegen lassen. Hat das Dach abgetragen und stattdessen eine Glasplatte oben drauf gelegt. Wie der Deckel auf Schneewittchens Sarg. Nur, dass ich keinen Apfel verschluckt habe, sondern jede Menge Wasser. Mein Personal war dann öfter auf dem Dach als in meinem Zimmer. So ein Dach ist ja auch nicht ständig schlecht gelaunt, sagt Frank und Recht hat er. So ein Dach zahlt aber auch nicht halb so gut wie Frank, also kommen die Leute jetzt wieder an mein Bett und lesen mir vor. Alles was sie zwischen die Finger kriegen. Die Bild. Die Bravo. Den Duden. Den Brockhaus. Die Bibel. Und Mickey Mouse. Sie glauben, ich kriege nichts mit. Sie lesen nur wegen Franks Kamera. Wenn ich je wieder hier raus komme, hab ich ein derart gefährliches Halbwissen, dass ich in einer Talkshow auftreten und es meinem Bruder heimzahlen kann. Mein Leben lang werde ich in Saus und Braus leben. Und das nur wegen einer Kamera, die mein Bruderherz hat einbauen lassen, um das Personal zu überwachen. Die Kamera, wegen der ich mich nicht traue in der Nase zu bohren. Gut, das kann ich nicht, aber die potenzielle Möglichkeit, die zählt. Ich liege. Sehe in den Himmel. Jeden Tag. Möchte ihn einmal kennenlernen, den Himmel, einmal zu ihm auffliegen, mich vorstellen, wo ich ihn doch nun schon immerzu anstarre. Heute ist er verdeckt. Verdeckt, nicht bewölkt. Ich liege. Sehe gen Himmel, der heute so ganz und gar unvertraut scheint. Ich sehe dem Mann zu, der sich bemüht, den Sargdeckel, in dem mein Bruder den Zugang zur Welt erkennen will, sauber zu bekommen. Bekommt er nicht. Jedenfalls nicht so, dass Frank zufrieden wäre. Wir sind halt eine Familie mit Ansprüchen. Frank will, dass die Leute für ihr Geld anständig arbeiten. Ich will unbeobachtet in der Nase bohren können. Potenziell. Nach dem zweiten Anschiss legt der Mann sich richtig ins Zeug, genauer: auf die Glasplatte. Seine Haut auf dem Glas erinnert mich an die Nase meines Bruders, die er als Kind am Küchenfenster plattgedrückt hat. Das wird so nichts, denke ich und Recht habe ich. Frank sieht das auch so. Er geht raus, brüllt gen Himmel, er möge verdammt noch mal da runter kommen. Und der Mann, der mir klare Sicht bringen sollte, liefert den Klassiker. Er steht auf, als wäre die Platte zum Stehen, nicht zum Gucken gemacht. Ich höre es knirschen, noch bevor ich das Glas reißen sehe. Es kommt, wie es kommen muss, das Arrangement bricht zusammen, der Mann landet auf mir, liegt, reglos wie ein Liebender, atmet fünf Atemzüge, tief, als sei er froh, sich noch atmen zu hören. Stemmt sich auf. Sieht mir in die Augen, bemerkt das Meeresblau. Erst sind die Strudel meiner Iris noch klein, dann größer und ich lasse sie gewähren, als sie den Mann vom Dach einsaugen. Der Mann dreht sich und dreht sich schneller, taucht ein in mein Augenmeer. Seine Hand, die an der linken Taille, gleitet höher, am Brustkorb vorbei, beinahe, aber eben nur beinahe, erfasst sie meinen Busen, der sich in Erwartung eben jener Berührung strafft. Mein Bruder stürmt zur Tür rein. Schreit, der Idiot solle sofort, wobei er das Wort sofort großbuchstabig ausspricht, von mir runter klettern. Der eine Trottel hört auf den anderen, rollt von mir und beginnt, knallrot im Gesicht, die Scherben einzusammeln.
Lass das!
Frank nimmt ihm das Gesammelte aus der Hand, streckt den Zeigefinger samt Arm in Richtung Tür. Auf Wiedersehen.
Schön wäre es, denke ich.
Meine Hand
Nimm meine Hand. Halte sie. Bitte. Lass nicht zu, dass sie sich losreißt. Nimm meine Hand. Halte sie fest in deinen Händen. Lass nicht zu, dass meine Hand sich losreißt. Ihr hinterher. An diesem vor Sonne triefenden Tag.
Wer hat die Uhr angehalten? Hat jemand die Uhr angehalten? Halte die Uhr an. Bitte. Halt meine Hand. Niemand kann von mir erwarten, dass ich dieses Ticken ertrage. Niemand kann von mir erwarten, heute nicht und morgen nicht, vielleicht an vielen folgenden Tagen nicht, dass ich dieses Ticken ertrage. Halt die Uhr an. Ja, mein Liebster ich weiß, die Zeit wird nicht stehen, nur weil ich eine Uhr anhalten lassen habe. In meinem Schmerz eine Uhr anhalten lassen habe, um mir vorzugaukeln, die Zeit stünde still. Angemessen still.
Halt meine Hand. Lass nicht zu, dass sie sich losreißt. Lass nicht zu, dass sie meinen Körper in eine Richtung treibt, in die ich noch nicht bereit bin zu gehen. Sie war bereit, so winzig sie auch war. Ganz sicher. Sie war bereit. Frieden lag in ihrem Blick und ganz am Schluss, hast du das auch gesehen, ganz am Schluss auch ein Hauch von Freiheit. Halt meine Hand. Lass nicht zu, dass sie sich losreißt, dass ich mich losreiße, ihr hinterher. Sie ist gegangen. Am Ende, nahezu freiwillig. Hast du die Freiheit in ihren Augen sehen können?
Halt meine Hand. Bitte. Halt mich, an meiner Hand. Sie ist gegangen, als gingen Kinder immer früh. Sie ist gegangen, als gingen Kinder überhaupt. Sie hat nicht gehadert. Hast du es auch fühlen können, mein Liebling? Sie hat uns hinter sich gelassen. Ist das zu glauben? Halt meine Hand. Lass sie nicht los. Zeig mir den Weg. Heute nur. Lass nicht zu, dass ich mich losreiße von dir, ihr hinterher.
Sie wird da sein, wenn meine Zeit gekommen ist, sagst du? Das will ich auch hoffen. Wann, wenn nicht dann, soll ich sie kennen lernen. Hätte sie nicht noch ein wenig bleiben können? Nimm meine Hand fest in die deine. Fest, damit ich sie ziehen lassen kann, ohne ihr hinterher zu eilen. Zeig mir den Weg. Lass nicht zu, dass ich schmelze, wie das Eis in der Sonne. Lass nicht zu, dass ich zerfließe, dass ich verdunste und vertrockne. Halt die Uhr an. Führ mich. Ohne Eile. Lass nicht zu, dass ich den Weg ins Licht nicht mehr finde. Lach mit mir. Irgendwann. Bald vielleicht. Lach mit mir. Schlaf mit mir. Bald. Später, aber nicht zu spät. Nimm meine Hand. Halt meine Hand.
Halt mich, Liebster, halte mich.